Montag, 31. März 2008

An einem vorüberziehen

Überarbeitet.

Es ist ein regnerischer Tag im Dezember. Das Geräusch des vorbeifahrenden Autos zieht sich in die Länge und wird zu einerm Rauschen, während einige braune Ahornblätter im Fahrtwind wippen. Andere fallen in wilden Spiralen von den Bäumen am Rande der Straße.
Der Asphalt ist an einigen Stellen dunkel vor Feuchtigkeit. Eine graue Wolkenschicht bedecke den Himmel. Nicht untypisch für diese Jahreszeit. Der letzte Regen liegt nicht lange zurück.
Er geht den gleichen Weg, wie jeden Tag. Soweit er denken kann war er immer schon diesen Weg gegangen. Als er jung war und die Schritte mit Schwung lenkte. Niemals hastig oder zu schnell, doch voller Neugier und Tatendrang. Als die Blätter noch grün waren an den Bäumen am Straßenrand und von der Frühlingssonne beschienen wurden. Er hatte das Gezwitscher der ersten Vögel gehört und Schneeglöckchen am Wegesrand gefunden.
Er ist alt. Sein Leben, es hatte bereits im vorigen Jahrhundert begonnen. Einmal schon um die Ecke quasi. Dort, wo man von hier nicht mehr hin sehen kann. Weit weg, wo der letzte Frühling, die warme Jugend man kaum mehr zu spüren ist.
Damals war alles anders.
Langsam setze er nun einen Fuß vor den anderen, beinahe andächtig. Er denkt daran, wie oft er hier gewesen war. Diese ersten unsicheren Schritte, wenn man gerade aus dem Haus kommt. Als Kind, da war er nur das kleine Stück bis zum Straßeneck gelaufen. "Nicht weiter!", hatte seine Mutter gesagt. Eine liebe Frau. Sie war an einem Dienstag gestorben, zwei Tage nach Weihnachten. Lungenentzündung. Damals konnte man eine Lungenentzündung nicht so gut behandeln wie heute. Es war eben alles anders.
"Nachher gehst du mir verloren", pflegte sie ihm zu sagen, wenn er besagter Grenze zu nahe kam, "Wenn du älter bist." oder "Die Straße ist nichts für Kinder." Ihm hatte das genügt. Lieber hatte er im Garten und auf den Feldern gespielt, als auf dem harten Asphalt. Über die Jahre hatte er Respekt vor dem Straßeneck bekommen, wollte gar nicht weiter.
Lange würde er diesen Weg nicht mehr gehen können, das Wetter hatte sich zusehends verschlechtert. Es wurde kalt, stürmisch und nass. Manchmal bekam er auch schon den ein oder anderen Tropfen ab. Das war nicht gut, das spürte er in den alten Knochen.
Über die Jahre hatte auch der Weg gelitten. Die Löcher im Asphalt waren größer geworden. An einigen Stellen war nachgebessert worden, doch der Weg war alt und lag abseits und die Stadt hatte nicht genug Geld, um neu teeren zu lassen. Und so weicht er nun den Pfützen und dreckigen Stellen aus, so gut es geht und erinnert sich an den Sommer. Als die Straße nicht nass und schmutzig waren, sondern trocken und heiß.
Er genoss es, wie die Sonne ihm ins Gesicht schien und er in den kühlen Schatten der Ahornbäume eintrat, jedes Mal. Wie er barfuss die kleinen warmen Steinchen spürte unter seinen Sohlen, die rauen und die glatten Stellen.
Er lauscht. Die Vögel haben schon lange nicht mehr gesungen. Damals, im Frühling, im Sommer, waren die Hecken und Bäume belebt gewesen vom Gesang der Rotkehlchen und Sperlinge.

Mit den Vögeln schien im Laufe des Herbstes auch die Lebendigkeit gegangen zu sein. Seither ist der Himmel wolkiger, die Luft kälter und der Weg einsamer.
Der Mann seufze und bleibt stehen. Im Frühling, im Sommer war der Weg voller Menschen gewesen. Menschen, die ihn begleitet hatten und die, die er ab und an getroffen hatte. Freunde und Bekannte, die mit ihm gegangen waren. Die spielenden Kinder und der Hund, oder der Postbote mit seinem Fahrrad.
Er hatte den Leuten zu gewunken, die in den Vorgärten Blumen hegten oder den Rasen pflegten. Er kannte die Menschen, junge und alte und sein Gruß wurde stets freudig erwidert. Eine kleine Gemeinschaft auf dem Weg.
Früher war er mit seinem Sohn hier gegangen. Doch der war nun fort. Wo genau, das wusste er nicht. Vielleicht hatte er seinen eigenen Weg gefunden, den er ging, dort wo er war. Vielleicht war der Weg ähnlich wie dieser. Vielleicht war es gerade Frühsommer gewesen, dort wo er war. Vielleicht nahm er nun schon seinen eigenen Sohn mit sich auf seinen Weg.
Wie gern würde er die Beiden nun bei der Hand nehmen. Er hat seinen Enkel nie kennen gelernt.
Schwer auf seinen Stock gestützt geht der Mann einige Schritte weiter. Bis zur Abzweigung kann er sehen, dort mündet der Feldweg, der ihn über den Hügel und zurück nach Hause bringt. Ein endloser Weg, wie ihm schien, aber es ist und war ihn keine Last.
Für einen Augenblick fliegt ein Lächeln über sein Gesicht, als er sich erinnert. Einige Male war er den Weg im Laufschritt gegangen, zu seiner sportlichen Zeiten und dann hatte er zu Hause kehrt gemacht und war ihn noch einmal gelaufen. Mit dunklem Fleck auf dem T-Shirt war er dann heimgekehrt und hatte sich gut gefühlt.
Als der alte Mann den Kopf in den Nacken legt und den Himmel betrachtet schwebte die erste zarte Schneeflocke auf ihn zu und landet auf seiner Stirn. Er lächelt und hält die behandschuhte Hand auf, noch eine oder zwei der spärlichen Winterboten zu fangen. Er lacht wieder, fällt in ein Husten und schnell zieht er den Schal um seinen Hals wieder zurecht und die Schultern hoch.
Auf den wenigen Meter zur Abzweigung fällt mehr Schnee und als er sich umdreht, die Straße zurückblickt, erkennt er den Weg nur durch einen Vorhang aus Schneeflocken. Es war ein guter Weg, denkt er bei sich. Alles wird weiß, die Zäune, die parkenden Autos, die Häuser. Die Hecken und die Briefkästen und die leeren Ahornbäume. Die Menschen werden zugedeckt und die Erinnerungen an die Menschen.

Dieses letzte Stück des Weges, jenes Stück abseits der Straße über den Hügel, liegt vor ihm. Wo hinter ihm der Asphalt und die Menschen waren, da liegt vor ihm die Ruhe und die Natur. Hinter ihm das Leben, das Erleben, das Tanzen und Singen. Hinter ihm Verkehr, die Stadt, der Trubel.
Schritt für Schritt betritt der Mann den Feldweg. Es wird stiller um ihn und friedlicher. Das Graue, Harte, die scharfen Konturen der Stadt, er lässt sie zurück und stapft dahin. In das, was weiches Grün zu sein pflegte, einst, im Sommer. Die hohen Gräser am Wegesrand, die im Vorbeigehen an den Beinen strichen, der Löwenzahn, verschmitzt zwischen den Steinen hervor wachsend. Schmetterlinge, die ihn ein Stück des Weges begleiteten. Der wilder Hafer, der sich im lauen Spätsommerwind wog. Schotter hier und da auf dem Weg, einmal ein Geldstück, dass jemandem verloren gegangen war.
Hier ist ihm, als würde die Zeit etwas langsamer vergehen als in der Stadt. Dieser Teil des Weges ist leise und ursprünglich. Hier vergehen die Sorgen, wenn der Blick über das Land gleitet. Lärm wird hier leiser gedreht und so hört man das Zirpen der Grillen, oder das Rascheln im Gras. Obwohl der kürzeste Teil des Weges, so dauerte dieser gewöhnlich etwas länger, bevor er durchschritten ist. Nicht, weil er unwegsam ist, nein! Vielmehr, weil man hier gerne stehen blieb, dem Flüstern der Natur lauscht, etwas langsamer geht.
Doch jetzt liegt alles unter einer weichen Schneedecke und selbst der kleine Pfad ist kaum noch auszumachen. Nur die Bilder in seinem Kopf leiten ihn, wie all die Jahre. Leiten ihn sicher die Steigung hinauf, von wo aus man den Überblick hat, über die Straße, den Weg, das Leben.
Etwas mühsam ist es doch, den Hügel zu erklimmen für den alten Mann. Mehrmals hält er inne, Atemwolken ausstoßend und mit schweren Schultern. Denkt gar einmal daran umzukehren, doch diesen Weg nicht zu Ende gehen zu können bringt er nicht übers Herz. In seinen alten Lungen schmerzt die eisige Winterluft, es wird kalt in seiner Brust. Seine Beine, er kann kaum mehr das Bein heben, das Knie anwinkeln und seinen Körper stützen.
So zieht er sich an seinem Stock hoch, langsam Stück für Stück den weißen Hügel hinauf, inmitten weißer Flur.
Das ist kein gutes Zeichen, er spürt die Jahre, die auf ihm lasteten. Er spürte, als er den Hügel erklimmt, dass es Zeit ist heimzukehren. Anzukommen, endlich. Und so wird er sich noch einmal zwingen aufzusehen. Die Schneeflocken werden ihm ins Gesicht treiben und ihm die Sicht nehmen, doch er wird alles so klar sehen, wie noch nie.
Wann wird er den Weg zum ersten Mal gegangen sein? So genau wird er sich nicht daran erinnern können, aber er wird wissne, es wird lange, lange her sein und die Sorglosigkeit von einst wird auf einmal zurückkehren. Nichts wird mehr wie damals sein, aber das dennoch in Ordnung.
Noch einmal wird es ihm in der Brust stechen, als müsste sie zerspringen. Noch einmal wird er keuchen.
Noch einmal wird er zurück des Wegs blicken, SEINES Wegs.
Er lächelte und ging. Lächelt und kehrt, alt und müde wie er ist und sein wird, endlich und für immer heim!