Dienstag, 26. März 2013

Gaudeamus igitur

Ich sitze im Zug. Im Ohr immer noch das hochfrequente Klingeln, das mich noch eine Weile begleiten wird. Das Abschiedsgeschenk.
Als ich beschlossen hatte die Party für mein Dafürhalten für beendet zu erklären und den Heimweg anzutreten badeten die ersten Seelen schon in der weingeistgeschwängerten Hoffnung, dass die Spaßkurve ihren Zenit noch nicht schon längst überschritten hatte, wie der verbrauchte Körper einer Bordsteinschwalbe mit Mitte fünfzig, und im traurigen, wenn auch nachvollziehbaren Versuch diesem "letzten" Abend des Zusammenseins noch Mehrwert hinzu zufügen plärrte viel zu laute und schlechte Musik aus den Boxen und viel zu starre, traurige Augen straften das Gelächter aus viel zu trockenen Kehlen lügen. Der Abend hatte die Erwartungen, die der Tag an ihn gestellt hatte nicht halten können und keiner im Raum war Willens sich das einzugestehen. Es musste schließlich etwas Legendäres werden, was man in Erinnerung behält und wovon man sich noch in Briefen und Brieftauben erinnern wird. Eine echt verrückte Nacht!
Das prickelnde Gefühl durchfuhr mich wieder. Ich zuckte unweigerlich zusammen, meine Hoden wurden autonom in die schützende Umgebung der Leistenkanaele gezogen und ich seufzte.
Nicht das angenehme Prickeln, das im Bauch, unweit der Nebennieren und einer verschleppten Blähung nicht unähnlich beginnt, sich gänsefederleicht über die Leisten bis zum Steißbein vorarbeitet und schließlich mit eiskalter Eleganz die Wirbelsäule empor klettert.
Es war eher das "Bitte nicht nochmal"-Gefühl an einen Weidezaun zu packen.
Bevor ich meinen Kopf nach rechts wandte wusste ich, woher dieses Gefühl kam. Sie wusste nicht genau warum sie es tat, nur dass sie es tun wollte. Ich sagte nichts und mein bitterer Gesichtsausdruck schien sie nicht zu stören. Ihre Seele verlangte nach Frieden und Glücklichsein für diesen Augenblick in der ständigen Gewissheit, aus welchen Anlass wir alle hier waren. Und angesichts des abnehmenden Alkoholspiegels und der nach Nachschub japsenden GABA-Rezeptoren kanalisierte sich dieser Wunsch in der Suche nach intensivem Hautkontakt. Ein Anschmiegen, das sich für mich wie Gliederschmerzen anfühlte.
Wer hätte ihr einen Vorwurf machen können? Aber war das der Augenblick, der uns als letztes von einander im Gedächtnis bleiben sollte? Hatten wir nicht unzählige unbezahlbare Stunden verbracht, die das Stimmungsbarometer des Abends - der Uhrzeit - jederzeit mit Leichtigkeit überstiegen hatten? Wozu also das müde Lachen, die Angst vor den kommenden Wochen in den Augen?
Doch es war schon zu spät diese Fragen zu stellen, so wurde es mir auf einmal mit ernüchternder Klarheit bewusst. Nachdem sich jetzt beide der jungen Frauen auf dem Schoß zweier Anwesenden wie zwei Hennen auf ihrem Nest niedergelassen hatten und der Kopf auf die männliche Brust nieder gesunken war beschloss ich also, dass meines Bleibens hier nicht läenger sein könne. Wie die Erinnerung an den letzten Kater spürte ich, dass mir dieser Abend morgen vermutlich leid täte und der magische Augenblick schon vergangen war, als die Musik nicht mehr in der Brust und nur noch im Ohr zu hören, die letzte Flasche Sekt ausgeschenkt, die Sprache verwaschen und die letzte Hoffnung von falscher Vorstellung beflügelt zu immer kompromissloseren Ausnahmen bereit war.
Als ich mich anzog spürte ich wieder dieses unangenehme Kribbeln und den unverwechselbaren Druck zweier Brüste, die sich an mich drückten. Acetaldehyd und eine warmer Hauch von Tomatensalat mit Dill baten mich aus myoper Distanz zu bleiben. Ich solle hier schlafen, aber auf jeden Fall solle ich noch bleiben. An einem anderen Tag hätte ich dem Vorschlag eine ernsthafte Chance gegeben, aber die anderen Tage waren vorbei.
Vom Treppenabsatz rief sie mir irgend etwas über ihren Körper nach, das ich nur halb verstand und nicht verstehen wollte. Nicht, dass wir nicht alle den selben Wunsch gehegt hatten was diesen Abend betraf. Ohne mich umzudrehen verließ ich die Wohnung, nicht ohne einem weiteren trunkenen Umarmungsversuch zu entgehen. Sie taten mir leid, es tat mir leid und ich wusste nicht einmal genau warum. War ich ein Spielverderber, ein Freund, der keiner war, wenn man ihn brauchte? Oder hatte ich versucht das alles in guter Erinnerung zu behalten? Zweifelsohne war dem Abend nichts mehr hinzu zufügen gewesen. Zumindest nichts Gutes.
Ich sitze im Zug und fahre fort von der Stadt, die uns zusammen geführt hat. Mit jeder weiteren Minute verblassen die letzten Augenblicke, das merkwürdige Gefühl etwas Wichtiges nicht getan zu haben angesichts der Versprechen, die wir uns zum ersten Toast gegeben hatten. Mit jedem Kilometer wünsche ich uns, dass wir unseren Frieden finden in diesem Abend. Jeder für sich, von einander getrennt und in Gedanken zusammen.